Laurence Heller, Aline Lapierre: Entwicklungstrauma heilen

Neben den singulären Schockereignissen wie Unfall, Vergewaltigung und Krieg erzeugen auch subtile, kaum wahrnehmbare Ereignisse über einen längeren Zeitraum ein Entwicklungstrauma, die in der frühen, oft vorsprachlichen Entwicklung eines Menschen meist durch die engsten Bezugspersonen stattgefunden haben und die sich nachhaltig störend auf die Lebendigkeit und Lebenskraft eines Menschen auswirken. Das Buch »Einwicklungstrauma heilen« von den amerikanischen Psychologen Laurence Heller und Aline Lapierre wendet sich an alle Menschen, die sich immer wieder fremd in der Welt fühlen, das Gefühl haben, dass andere oder sie selbst immer wieder über ihre Grenzen gehen und die ihre Ohnmacht spüren angesichts des immer gleichen unglücklich machenden Beziehungsmusters, dass sie einfach nicht zu ändern in der Lage sind.

Unter Entwicklungstrauma verstehen Laurence Heller und Aline Lapierre eine Dysregulation des autonomen Nervensystems, dass durch Vernachlässigung, emotionale Übergriffigkeit oder chronische mangelnde Einstimmung der Eltern auf das Kind ausgelöst wird. Missbraucht ein Elternteil das Kind emotional, körperlich oder sexuell, ist die natürliche Reaktion des Kindes, sich zu wehren. Dieser Impuls flößt jedoch Angst ein, und wenn das Kind noch klein ist, darf es diesen Impuls auf keinen Fall spüren, da das Kind die Bindung zu seinen Eltern bedroht sieht. Um mit den aggressiven Impulsen gegenüber den Eltern umgehen zu können, entwickelt das Kind eine Überlebensstrategie. Diese Überlebensstrategie schützt die Bindung zu den Eltern, hat aber lebenslange Auswirkungen auf die physiologische und psychologische Entwicklung des Kindes und seine Bindungs- und Kontaktfähigkeit. So entstehen unter anderem ein geringes Selbstwertgefühl, Zwangs- und Suchtverhalten und sogar selbstzerstörerisches Verhalten, und der unbarmherzige innere Kritiker entwickelt sich.

Das von Laurence Heller und Aline Lapierre entwickelte neuroaffektive Beziehungsmodell (NARM) ist eine körperlich orientierte psychotherapeutische Methode, die einerseits die Barrieren ermitteln will, die zu der Kontaktstörung führen und die andererseits gesunde Ausdrucksformen von Lebendigkeit unterstützen will. Sie greift dabei hauptsächlich auf den Trauma-Therapeuten Peter Levine und seine ganzheitliche Methode »Somatic Experiencing« zurück, die er in seinem Buch »Sprache ohne Worte« beschreibt.

Das Modell

Nach Laurence Heller und Aline Lapiere gibt es fünf biologisch bedingte Kernbedürfnisse, die für das physische und psychische Wohlergehen des Menschen entscheidend sind: das Bedürfnis nach Kontakt, nach Einstimmung, nach Vertrauen, nach Autonomie und nach der Gleichzeitigkeit von Liebe und Sexualität. Wird eines der biologisch bedingten Kernbedürfnisse nicht erfüllt, führt dies zu Beeinträchtigungen in der Selbstregulierung, der Identität und dem Selbstwertgefühl. Auf diese fünf Kernbedürfnisse eingestimmt zu sein bedeutet, dass wir mit unseren tiefsten Ressourcen und unserer tiefsten Lebensessenz in Kontakt sind und uns erlauben, derartige Bedürfnisse im Erwachsenenalter wahrzunehmen und für ihre Erfüllung zu sorgen.

In dem Maße, in dem die fünf Kernbedürfnisse in der frühen Entwicklungsphase des Lebens unerfüllt bleiben, kommt die Ausbildung fünf entsprechender adaptiver Überlebensstrategien in Gang. In der frühen Entwicklung sind diese Anpassungs- oder Überlebensstrukturen Strategien, um mit unerfüllten Bindungsbedürfnissen, der gestörten Regulierung des Nervensystems sowie mit der Isolation umzugehen, die ein Kind erlebt, wenn Kernbedürfnisse auf der Beziehungsebene nicht erfüllt werden. Je mehr die adaptiven Überlebensstrukturen regieren, desto mehr sind wir abgeschnitten von unserem Körper, desto mehr entsteht eine verzerrte Identität und desto weniger können wir uns selbst regulieren und mit den Herausforderungen des Lebens umgehen.

Bei jeder adaptiven Überlebensstruktur gibt es auf Scham basierende Identifizierungen, die auf das Bemühen zurückgehen, Sinn in den Fehlern und Versäumnissen des frühen Umfeldes zu finden. Außerdem entwickeln die meisten Menschen als Reaktion auf die Scham von Stolz getragene Gegenidentifizierungen, um aus der Scham eine Tugend zu machen. Paradoxerweise gilt aber: Je mehr Energie jemand in die Gegenidentifizierung steckt, desto stärker werden die auf Scham basierenden Identifizierungen. Es entsteht ein Teufelskreislauf innerer Not, denn die in der Kindheit überlebensrettenden Anpassungsstrategien werden im Erwachsenenalter zur Ursache anhaltender Dysregulation und bewirken Dissoziation und Identitätsprobleme.

Ein Überblick über die fünf Überlebensstrukturen und deren auf Scham basierende Identifizierungen und auf Stolz basierende Gegenidentifizierungen:

  • Überlebensstruktur Kontakt: Scham, überhaupt zu existieren. Stolz darauf, ein Einzelgänger zu sein, nicht emotional zu sein
  • Überlebensstruktur Einstimmung: Scham, bedürftig, leer, unerfüllt zu sein. Stolz darauf, gebraucht zu werden, keine eigenen Bedürfnisse zu haben
  • Überlebensstruktur Vertrauen: Scham, klein und ohnmächtig zu sein. Stolz darauf, erfolgreich zu sein und das Sagen zu haben
  • Überlebensstruktur Autonomie: Scham, wütend und rebellisch zu sein, Freude daran, andere zu enttäuschen. Stolz darauf, nett, brav und gehorsam zu sein
  • Überlebensstruktur Liebe/Sexualität : Scham, ungeliebt und mit Makeln behaftet zu sein. Stolz darauf, ein Perfektionist und Kritiker von anderen zu sein

Die Methode

Das neuroaffektive Beziehungsmodell (NARM) will die auf Scham basierenden Identifizierungen und auch die auf Stolz basierenden Gegenidentifizierungen als Illusion enttarnen und die fünf Kernbedürfnisse, die gleichzeitig Kernressourcen sind, wieder freilegen. Dazu bedarf es der Schulung des somatischen Wahrnehmens, der Hinwendung zu den gespürten Körperwahrnehmungen (Felt Sense) und dem Körpererleben, dem sogenannten Buttom-Up-Therapieansatz, der einen Informationsfluss vom Stammhirn (instinktive Reaktionen) über das limbische System (Affekte, Emotionen) bis zum Neokortex (Glaubenssätze, Identifizierungen, Wertungen) freisetzt. Das reguliert das Nervensystem neu und beeinflusst damit auch unsere Emotionen und Gedanken.

Parallel zu dieser Buttom-Up Ausrichtung wird auch ein Top-Down-Prozess in Gang gesetzt, der umgekehrt verläuft und den Fokus auf die Auseinandersetzung mit der eigenen Identität richtet. Zur Identität gehören die auf Scham basierenden Identifizierungen und die auf Stolz basierenden Gegenidentifizierungen. Sind diese bewusst gemacht und akzeptiert, können sie sich auflösen. Dies wiederum beeinflusst das limbische System und das Stammhirn, sodass ein Heilungskreislauf in Gang gesetzt wird.

Oberstes Gebot der Methode ist eine Verhinderung in die Re-Traumatisierung, in den kathartischen Effekt einer Gefühlsexplosion, die auf das Nervensystem dysregulierend wirkt. Deshalb wird der Fokus erst dann auf schmerzhafte Ereignisse gelenkt, wenn im Klienten genügend Ressourcen aufgebaut wurden und eine gewisse Selbstregulierung gegeben ist. Dazu bedient sie sich der Titration, (wie in der Chemie, wo man zwei verschiedene Flüssigkeiten tröpfchenweise vorsichtig zusammenschüttet, sodass sie nicht explodieren, sondern sich mischen) also des tröpfchenweisen, wohl dosierten Vorgehens, bei dem es nicht zu einer Explosion und Überwältigung von Gefühlen, sondern zu einer vorsichtigen Entladung kommt, die den Fähigkeiten des Klienten angemessen ist.

Laurence Heller, Aline Lapierre: Entwicklungstrauma heilen – Alte Überlebensstrategien lösen, Selbstregulierung und Beziehungsfähigkeit stärken, Kösel Verlag 2013, 432 Seiten, 32 €

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